Merkel und das Wettrennen um unsere Daten

Rechtzeitig zur Cebit hat die Kanzlerin einen Podcast veröffentlicht, in dem sie sich medienwirksam von einer jungen Studentin des Fachs „Global Business Management“ an der Universität Augsburg fragen lässt, ob Deutschland seinen Rückstand bei Big Data durch staatliche Förderung aufholen will.

Die Antworten der Kanzlerin sind irritierend. Ausgehend von der sattsam breitgetretenen Metapher der Daten als Rohstoff des 21. Jahrhunderts versucht sie zu begründen, warum man diese Daten für bestimmte Sektoren, zum Beispiel die Industrie, den gesamten Mobilitätsbereich und auch den Gesundheitsbereich und den Energiebereich erschließen müsse. Ziel der Erschließung dieser Daten ist es, den Herstellern von Produkten den “Zugang zum Kunden” zu ermöglichen: “Und in der Tat tut sich Deutschland an manchen Stellen noch schwerer als andere Länder, diese Daten auszuwerten. Aber sie werden in Zukunft natürlich von allergrößtem Interesse sein, weil sie auch – die großen Mengen an Daten – den Zugang zum Kunden bestimmen. Das heißt: Wer heute gute Maschinen, wer heute gute Autos herstellen kann, aber nicht in ausreichender Weise den Zugang zum Kunden bekommt, der wird morgen nicht mehr der Produzent oder der Hauptteil der Wertschöpfung sein.” (Merkel führt hier Autos als Beispiel an, aber es darf gemutmaßt werden, dass sie auch die anderen erwähnten Sektoren wie den Gesundheitsbereich meint).

Was kann mit “Zugang zum Kunden” gemeint sein? Unternehmen können doch auch jetzt schon ihre Autos, medizinischen Geräte usw. frei bewerben und verkaufen – warum muss dem eine Kunden-Durchleuchtung anhand von “Big Data” vorausgehen?
“Big Data” bedeutet vor allem, dass man möglichst viele Daten auswertet, um möglichst passgenaue Profile zu erstellen – in diesem Fall von potenziellen Kunden. So wird es möglich, gezielt denjenigen persönliche Angebote zu machen, die Interesse daran haben könnten (oder dazu überredet werden könnten) das jeweilige Produkt zu kaufen – vom neuen Auto (“Ein Van – schließlich ist schon wieder Nachwuchs unterwegs”) über Fitness-Studio-Mitgliedschaften (“Bei Ihren Werten müssen Sie dringend was tun, sonst wird die Krankenversicherung unbezahlbar”) bis hin zu Schönheitsoperationen “Ihr Beliebtheitsrating im sozialen Netzwerk X könnte auch ein Lifting gebrauchen”).

Die obigen Beispiele (in Anführungzeichen) sind leider nur wenig fiktiv: In den USA, wo Unternehmen nahezu uneingeschränkt Daten sammeln und auswerten dürfen, ist diese Form der Werbung bereits weit verbreitet. So beschwerte sich ein Vater aus Minnesota darüber, dass die Ladenkette Target seiner minderjährigen Tochter Coupons für Baby-Sachen Produkte zuschickte. Allerdings stellte sich dann heraus, dass die junge Frau tatsächlich schwanger war. Target hatte das aus einer Analyse ihres Kaufverhaltens mit hoher Wahrscheinlichkeit ableiten können.

Die Auswertung von Daten, die Menschen freiwillig abgeben, wie z.B. Daten zum Einkaufsverhalten über eine PAYBACK-Card, ist aber auch hierzulande legal und üblich. Außerdem gestalten einige Webshops (amazon u.ä.) die Angebote und Preise kundenspezifisch – in Abhängigkeit davon, ob man einen PC, einen Apple-Computer, ein Tablet oder ein Smartphone verwendet, ob man in einem reichen oder ärmeren Viertel wohnt, oder wie oft man das Produkt schon aufgerufen hat. Alles, was Interesse oder höhere Zahlungsfähigkeit signalisiert, erhöht den Preis. Die Shops identifizieren dafür die Kunden über Cookies, Tracker, die individuellen Browser-Einstellungen (Browser Fingerprinting) o.ä.

Für Unternehmen ist Kundenselektion anhand von “Big Data” sicherlich profitabel. Und natürlich ist sie umso treffsicherer, je mehr Daten man dafür verwenden kann. Und nun befürchtet Merkel offenbar, dass deutsche Unternehmen ins Hintertreffen geraten könnten gegenüber Firmen aus den USA, dem Land der unbegrenzten Datensammelfreiheit.
Der Datenschutzstandard ist in der BRD jedoch nicht ohne Grund vergleichsweise hoch: Nach den Erfahrungen mit dem totalitären System des Dritten Reichs, in dem der Staat möglichst alles über jeden wissen wollte, wurden im Grundgesetz zum Schutz der Bürger Grundrechte festgeschrieben, aus denen sich ein restriktives Datenschutzrecht ableitet.

Die Äußerungen der Bundeskanzlerin und anderer Politiker lassen jedoch erkennen, dass derzeit ein Paradigmenwechsel stattfindet – vom Schutz persönlicher Daten hin zu deren wirtschaftlicher Verwertung. Personenbezogene Datenbestände wie Krankenakten sind für eine Profilbildung natürlich besonders wertvoll. Daher bleibt zu hoffen, dass nicht in einem in einem fehlgeleiteten Versuch der Wirtschaftsförderung auch besonders geschützte persönliche Daten für weitere Nutzungen freigegeben werden. Vorbild könnte das Big Data-Projekt des britischen Gesundheitswesen sein, das auch die kommerzielle Nutzung von Patientendaten – zunächst durch Apotheken – vorsieht.
Umso wichtiger ist es, dass wir als Bürger und Krankenversicherte dem Druck der Wirtschaft etwas entgegensetzen. Gesundheitsdaten müssen in der Hand der Patienten und der Ärzte ihres Vertrauens bleiben. Zweckgebunden erhobene persönliche Daten dürfen auch künftig ausschließlich für den Zweck genutzt werden, für den sie erhoben wurden.

Links

Podcast der Bundeskanzlerin:
http://www.bundeskanzlerin.de/Webs/BKin/DE/Mediathek/Einstieg/mediathek_einstieg_podcasts_node.html?id=1923720
http://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Podcast/2016/2016-03-12-Video-Podcast/links/download-PDF.pdf;jsessionid=4A2200F117695F2FC86AEFA047C77D74.s5t2?__blob=publicationFile&v=2

Auswertung von Kaufverhalten:
http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014-04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen
http://www.nytimes.com/2012/02/19/magazine/shopping-habits.html?_r=2&hp=&pagewanted=all

Dynamic Pricing:
http://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/Das-WebshopperTracking-und-die-Flucht-davor/story/18613579?track
http://www.shz.de/deutschland-welt/netzwelt/tracking-wenn-nutzer-sich-ins-abseits-surfen-id12724716.html

Big Data im britischen Gesundheitswesen:
http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014-04/big-data-gesundheitswesen-nhs
https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2015/08/12/unnamed-107

 

Missbrauchspotenzial und Kosten der elektronischen Gesundheitskarte

Zwei der zentralen Argumente für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte waren Kostensenkung und Verhinderung von Missbrauch. Nun findet sich in einem Artikel beim SWR im Zusammenhang mit Flüchtlingen genau die umgekehrte Argumentation, um die Karte bei Flüchtlingen nicht einzuführen.

Allein die Einführung der Gesundheitskarte würde die Behandlung von Flüchtlingen verteuern. Die Stadt Kaiserslautern rechnet nach eigenen Angaben mit mehr als 130.000 Euro Kosten, sollte die Karte kommen; viel Geld für die pro Kopf am höchsten verschuldete Stadt Deutschlands.

Und Rebecca Trinkaus, die Leiterin der Abteilung Asyl beim Arbeits- und Sozialpädagogischen Zentrums (ASZ) befürchtet gar den Missbrauch der Karte: “Wie ist das, wenn ein Flüchtling die Bundesrepublik verlassen muss?” fragt sich Trinkaus. “Nimmt er die Karte mit? Muss die Karte beim Sozialamt gesperrt werden?

Die überraschende Umkehrung der Argumentation, mit der die eGK für gesetzlich Krankenversicherte ursprünglich eingeführt wurde, sollte Anlass sein, das Missbrauchspotenzial sowie Kosten und Nutzen der eGK/Telematikinfrastruktur zu überdenken:

Verhindert die Karte Leistungsmissbrauch?

Offensichtlich bestehen daran Zweifel. Außerdem ist dies kein Argument für die eGK und schon gar nicht für die Telematikinfrastruktur: Das Foto, das den Missbrauch angeblich verhindern oder wenigstens erschweren soll, hätte auch problemlos auf die alte Krankenversicherungskarte gedruckt werden können.
Zudem eröffnet die zentrale Vernetzung durch die Telematikinfrastruktur Möglichkeiten für ganz neue Formen des Missbrauchs, nämlich den Missbrauch der Patientendaten durch Zugriffberechtigte sowie durch Kriminelle, die sich die Daten unberechtigterweise verschaffen.

Spart die eGK Kosten?

Bislang sicher nicht. Bisher hat sie Mehrkosten in Milliardenhöhe verursacht und keinerlei Ersparnisse im Vergleich zur alten Krankenversicherungskarte gebracht. Das Projekt wird voraussichtlich weitere Milliardenbeträge im zweistelligen Bereich verschlingen und der Nutzen wird wohl nie die Kosten einholen. Auch, weil die Chip-Karten alle fünf Jahre ausgetauscht werden müssen, weil die verwendete Verschlüsselung dann als veraltet gilt. Etwa ebenso häufig muss die Hardware des hinter der eGK stehenden Datennetzes, der “Telematikinfrastruktur” ausgetauscht werden. Hinzu kommen die Personalkosten für IT-Fachleute, die das System warten.

Die einzige bisher vorliegende Kosten-Nutzen-Analyse zu eGK aus dem Jahre 2006 kam zu der Schlussfolgerung, dass der finanzielle Nutzen in den wenigsten Szenarien die Kosten überschreiten dürfte, und stellt außerdem fest:
Der Hauptnutzen resultiert aus den freiwilligen Anwendungen. Sie sind derzeit entweder noch gar nicht oder nur ungenügend spezifiziert. Aufgrund des großen Nutzenpotentials sollten die freiwilligen Anwendungen möglichst frühzeitig eingeführt werden. Daher sollten die Fachkonzepte zum Notfalldatensatz und den Daten zur Prüfung der AMTS Fachkonzepte zeitnah fertig gestellt und mit der Erarbeitung der Spezifikation der Anwendungen „elektronische Patientenakte“ und „elektronischer Arztbrief“ mit großer Priorität umgehend begonnen werden.” (Booz Allen Hamilton 2006, S. 27)
Kurz: Der ganze Aufwand lohnt sich höchstens dann, wenn die Versicherten dazu gebracht werden können, auch die datenintensiveren, bislang freiwilligen Anwendungen der eGK/Telematikinfrastruktur zu nutzen.

Das legt die Frage nahe, ob sich die eGK für Flüchtlinge möglicherweise deswegen nicht lohnt, weil sie weder als Datenlieferanten für langjährige Patientenakten noch als Adressaten für (dank eHealth-Gesetz zulässiger) Zusatzdienste privater Anbieter in der Telematikinfrastruktur gelten und ihre Daten daher weniger lukrativ wären. Das Interesse an der zentraler Erfassung ihrer Gesundheitsdaten scheint jedenfalls gering zu sein.
Links:

http://www.swr.de/landesschau-aktuell/rp/kaiserslautern/gesundheitskarte-fuer-fluechtlinge-in-kaiserslautern-missbrauch-befuerchtet/-/id=1632/did=17092548/nid=1632/1xa53m9/index.html
Booz Allen Hamilton (2006): Endbericht zur Kosten-Nutzen-Analyse der Einrichtung einer Telematik-Infrastruktur im deutschen Gesundheitswesen; http://www.ccc.de/de/updates/2006/krankheitskarte